Am 15. Mai 2018 waren wir zu unserem lokalen Kontakt Issa Souf nach Haris für einem sehr besonderen Abend eingeladen. Es war ein bedeutungsvolles Ereignis, wie ich es so noch nie zuvor erlebt habe. Palästinenser und Israelis waren zusammengekommen, um gemeinsam zweier Ereignisse zu gedenken: dem 70. Jahrestag der „Nakba“ (im arabischen Sprachgebrauch die „Katastrophe“ – Bezeichnung für die Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 PalästinenserInnen während des israelischen Unabhängigkeitskriegs) und der persönlichen Katastrophe von Issa Souf. Am 15. Mai 2001 hatten israelischen Soldaten Issa auf offener Straße in seinem Dorf Haris angeschossen. Er ist seither querschnittsgelähmt.
Es geschah während der zweiten Intifada, die Sicherheitsmaßnahmen waren überall erhöht. In seinem Dorf hatte es Zusammenstöße gegeben, von den Soldaten wurde Tränengas eingesetzt. Issa war auf die Straße gelaufen, um seine Nachbarn zu warnen, damit sie ihre spielenden Kinder in Sicherheit brächten, als er plötzlich angeschossen wurde. Er hatte keine Waffe bei sich und wusste nicht, wie ihm geschah. Die Kugel, mit der er getroffen wurde, war laut der behandelnden Ärzte ein Dum Dum Geschoss, deren Verwendung nach internationalem Recht verboten ist. Issa erzählt, die Kugel habe seine Lunge durchschossen und sei nahe seiner Wirbelsäule explodierte. Für ihn ist es ein Wunder, dass er überlebte. Doch bald wurde klar, dass er nie wieder laufen können würde, er sitzt nun in einem Rollstuhl. Sein erster Sohn war damals noch kein Jahr alt.
Nach seiner Rehabilitation schrieb er einen Brief an den Soldaten, der ihn angeschossen hatte. Der israelische Journalist Gideon Levy veröffentlichte den Brief und einen sehr lesenswerten Bericht[1] über das Leben von Issa Souf und die Ereignisse jenes Tages in der israelischen Tageszeitung Haaretz. Issa Souf spricht in dem Brief von seiner Hoffnung, den Soldaten eines Tages zu treffen und mit ihm zu sprechen, ohne Anklage, ohne Hass, sondern mit dem Vorhaben, ihn und alle anderen Soldaten von der Notwendigkeit einer friedlichen Koexistenz überzeugen zu können.
Issa war schon vor seiner Verletzung im gewaltfreien Widerstand aktiv, Seite an Seite auch mit israelischen AktivistInnen. Durch sein Schicksal und die Veröffentlichung seines Briefes habe er noch mehr israelische Freunde gefunden. Menschen, die sich mit ihm solidarisiert haben, angesichts des großen Unrechts, das ihm wiederfahren ist. Der Soldat selbst meldete sich nicht.
Issa sagt, er hasse niemanden. Aber er trauert um das Schicksal seines Volkes. Seine Geschichte sei „keine außergewöhnliche Geschichte, sondern eine, wie viele andere PalästinenserInnen sie auch durchlebt haben“. Er habe nie ein Problem mit Juden gehabt, früher hätten Juden, Muslime und Christen hier sehr gut miteinander gelebt. Menschen jüdischen Glaubens, ob aus Israel oder anderen Ländern, sind häufig bei ihm zu Gast. Es gehe nicht um Religion, sondern darum, dass das israelische Militär das Leben der Menschen hier bestimmt und einschränkt, dass ihnen fortlaufend Land und Wasser weggenommen wird, so sagt es Issa. Bis heute ist er aktiv ihm gewaltfreien Widerstand. Er hält Kontakt zu seinen israelischen Freunden, die sich ebenfalls für ein Ende der Besatzung einsetzen und die ihn jedes Jahr am 15. Mai besuchen.
Und so waren auch wir dieses Jahr eingeladen: Alle gemeinsam saßen wir bei Issa, seiner Frau und seinen 5 Kindern zu Hause und durften Teil dieses besonderen Tages sein. Es gab ein riesiges Buffet, das Issa und seine Freundin Noam aus Herzliya nahe Tel Aviv gemeinsam zubereitet hatten. Issas Kinder haben ihm eine Geburtstagstorte geschenkt, denn manchmal nennt Issa den Tag nicht nur seine „Katastrophe“, sondern auch seinen „zweiten Geburtstag“. Wir sangen gemeinsam Happy Birthday, das Kerzenausblasen überließ Issa aber seinen Kindern, die sich darüber immens freuten. Später meditierten wir gemeinsam und nutzten die Momente der Ruhe, um der vielen leidenden Menschen der letzten Tage und Jahre zu gedenken.
Das Meditieren selbst hat dann nur so halb geklappt, da Issas fünf Kinder und ihre Freunde immer wieder Anlässe zum Kichern fanden und auch der kleine Welpe der Familie nicht so ganz ruhig blieb.
Trotz der traurigen Anlässe, die uns zusammengeführt hatten, war der Abend wunderschön und wird mir lange in Erinnerung bleiben.
Rebecca, Mai 2018