(Sliman Mansour)
Wenn man in Palästina unterwegs ist, stößt man immer wieder auf die Sperranlage, die Israel und die Westbank voneinander trennt[1]. In Beit Jala, in der Nähe von Betlehem, ist das eine Mauer. Beim Fotografieren der Mauer treffe ich Mohammed (12) und seine Schwester Nadja (16). Die Geschwister führen mich in den Garten der Familie und zeigen mir stolz, was dort alles wächst. Der Garten wird durchschnitten von der Sperrmauer, der beim Bau auch uralte Olivenbäume, die sich seit Generationen im Besitz der Familie befanden, weichen mussten.
Mohammed zeigt mir einen massiven Olivenbaum, der noch immer gefällt unmittelbar neben der Mauer liegt. Im Haus befindet sich ein Haufen bereits zerkleinertes Olivenholz, das von weiteren Bäumen stammt. Mohammed nimmt ein Stück Holz und macht mich auf die feine Maserung aufmerksam. Die Geschwister erzählen, dass die Familie früher ein Pferd besaß, das im Garten weidete. Sie zeigen mir den Pferdestall, neben ihrem Haus. Als die Mauer errichtet wurde, hätten sie auch das Pferd nicht behalten können, es befände sich bei neuen Besitzern auf der anderen Seite der Mauer. Den Geschwistern ist die Empörung deutlich anzumerken.
Nicht weit entfernt von Beit Jala steht das Walled Off Hotel des britischen Streetart-Künstlers Banksy. Betritt man das Hotel, so hängt in einem unauffälligen Winkel der Eingangshalle ein beeindruckendes Kunstwerk: Ein kleines Mädchen kniet vor der Trennmauer, die sich gegenüber dem Hotel real befindet. Das Mädchen hat einen Spielzeughammer in der Hand, der zu einem Kasten gehört. Wer mit Kindern zu tun hat, kennt vielleicht dieses Spielzeug: In diesen Kasten kann man mit Hilfe des Hammers durch vorgefertigte Öffnungen Klötze, die unterschiedlich geformt sind, hämmern.
Aber auf dem Bild von Banksy gibt es keine Öffnungen für die Klötze, die die Symbole der drei großen Weltreligionen aufgreifen: Halbmond, Stern, Kreuz. Das Mädchen, das einen Hijab trägt, schaut auf die Aushöhlung eines Herzens, das in die mit Graffiti bemalte Mauer hineingehauen wurde – vielleicht von ihm selbst, mit dem Spielzeughammer. Auf den ersten Blick ein typisches Banksy-Kunstwerk, meint man vielleicht. Aber ich habe nie ein hoffnungsloseres und traurigeres Bild von ihm gesehen. Schaut man sich die Öffnung in der Betonmauer genauer an, dann ist nichts anderes als eine weitere Mauer zu sehen, die noch massiver und dunkler aussieht, als die ohnehin vorhandene. Wie schlimm muss es sein, mit Mühe eine Mauer durchbrochen zu haben, um dann zu erkennen, dass sich nichts anderes dahinter befindet, als eine weitere Mauer. Hinter dieser Öffnung in Form eines Herzens zeigt sich erst die Dunkelheit der eigentlichen Mauer: die in den Herzen der Menschen. Was wir in dieser Region an Abschottungspraktiken erleben, spiegelt auch das wider, was weltweit – also auch bei uns in Europa – passiert.
An den Checkpoints zu den Teilen der Westbank, die den palästinensisch verwalteten A-Gebieten zugeordnet sind, befinden sich überdimensional große leuchtendrote Warnschilder, die sich an israelische Staatsbürger richten. Sie weisen darauf hin, dass es verboten ist, diese Gebiete zu betreten, da dies israelischen Staatsbürgern per Gesetz nicht gestattet ist und der Aufenthalt dort lebensgefährlich sei. Die Trennmauer zwischen Israel und den besetzten Gebieten ist offensichtlich und gegenwärtig. Aber die Mauern, die mit solchen Warnschildern in den Köpfen und Herzen der Menschen entstehen, erscheinen mir noch viel bedrohlicher. Hier wird Angst erzeugt vor dem, was sich hinter der Sperranlage befindet. Angst vor den Menschen dort, die kollektiv als Bedrohung dargestellt werden. Eine solche Mauer teilt die Menschen auf in „Wir“ und „Die“, teilt auf in Eingeschlossene und Ausgeschlossene. Die physische Mauer, wie auch die Mauer, die durch Angst in den Herzen der Menschen entsteht, trennt von dem, was berühren könnte, trennt vom Leid der anderen.
Während unseres Halbzeitseminars besuchen wir am Shabbat eine Reformsynagoge. Beim anschließenden Shabbatmahl erzählt mir Alona, meine Tischnachbarin, dass aus ihrer Sicht die Ignoranz der Menschen die Mauer ausmacht. Große Teile der israelischen Bevölkerung würden komplett ignorieren, dass auf der anderen Seite der Mauer Menschen leben, die unter den Folgen der Besatzung leiden. Die reale Mauer unterstütze dies natürlich. Alona fügt hinzu, dass zudem die israelische Regierung mit ihrer Politik dazu beitrage, Angst bei der israelischen Bevölkerung zu erzeugen.
Uri, ein Israeli, den ich bei einer sog. „Landaktion“ der Friedensorganisation Ta´ayush treffe, bestätigt dies: „Es ist so einfach, in Israel zu leben und die Okkupation der besetzten Gebiete komplett auszublenden. Es ist so, als existierten die Menschen auf der anderen Seite der Sperranlage überhaupt nicht.“[2]
Die Palästinenser in der Westbank wiederum kennen in der Regel nur das Leben unter den Bedingungen der Besatzung. Dazu gehören willkürliche Kontrollen an sog. Flying Checkpoints, Hausdurchsuchungen, Siedlergewalt, Landenteignungen, Zerstörung von Infrastruktur etc. Diese Erfahrungen machen ihr Bild von Israelis aus.
Dennoch gibt es immer wieder Hoffnungsschimmer. So auch in Beit Jala, wo wir die palästinensisch-deutsche Schule Talitha Kumi besuchen. Übersetzt bedeutet der Name der Schule: „Mädchen, steh auf!“[3]
Der palästinensische Künstler Sliman Mansour – der selbst Schüler in Talitha Kumi war – widmete der Schule ein Kunstwerk. In arabischer Schrift ist dort ein Wortspiel eingearbeitet, das sich auf den Namen der Schule bezieht: Palästina steh auf! Die Frau symbolisiert bei Mansour sowohl Heimat als auch Revolution[4]. Die Friedenstaube weist darauf hin, dass dies gewaltfrei geschehen soll.
Talitha Kumi ist nicht nur eine Schule. Das Gelände ist sehr groß: Ein Teil gehört zu Area A, der andere zu Area C. Letzterer darf auch von Israelis betreten werden. Talitha Kumi entwickelte sich in den letzten Jahren zu einem der wenigen Orte in Israel und Palästina, an dem sich Vertreter israelischer und palästinensischer Friedensorganisationen treffen können.
So war Talitha Kumi z.B. auch der Ort, an dem sich zum ersten Mal ehemals bewaffnete Kämpfer beider Seiten getroffen und ihr gegenseitiges Misstrauen überwunden haben. Es entstand daraus die gewaltfreie Friedensorganisation „Combatants for Peace“[5]. Ruth und Ali berichten uns von ihrer Arbeit und betonen, dass es für die Palästinenser eine wichtige Erfahrung ist, unmittelbare Unterstützung von Israelis zu bekommen. So besteht eine Aktivität der Mitglieder z.B. darin, dass Israelis gemeinsam mit Palästinensern zerstörte palästinensische Zelte wieder aufbauen. In Israel besuchen die CfP Schülerinnen und Schüler in den Abschlussklassen der Highschools, deren Armeedienst bevorsteht und erzählen von den Menschen, die ihnen während ihrer Armeezeit in den besetzten Gebieten begegnen werden.
Die Organisation „Friends of Roots“[6] ist einzigartig in der Westbank. Hier kommen Siedler und Palästinenser zusammen, um in einen Dialog zu treten. Der Siedler Hanan erzählt uns, dass er aus religiösen Gründen in der Westbank lebe. Es gehöre zu seiner Identität, im Land seiner Vorväter zu leben und für ihn sei ganz klar gewesen, dass er ein Recht darauf habe. „Ich war blind, da die Palästinenser, die in meiner Nachbarschaft leben, für mich unsichtbar waren. Ich war darauf trainiert, sie nicht als Menschen wahrzunehmen. Nun musste ich lernen, mit meiner eigenen Identität der Identität der anderen Raum zu geben: Da existieren zwei Geschichten und beide sind wahr“, so Hanan. Khaled erzählt uns von der Tragödie in seiner eigenen Familie: Sein jüngerer Bruder war von Schüssen israelischer Soldaten getötet worden. Khaled nahm mit seiner Familie an einem Treffen mit israelischen Familien teil, die ihrerseits ein Kind verloren hatten in Israel bei einem Selbstmordattentat. Diese Erfahrung von menschlicher Nähe, von Empathie, veränderte seine Wahrnehmung der Israelis. Seitdem ist er ein aktives Mitglied von „Roots“. Khaled lebt in Beit Ummar, wo sich auch das Begegnungszentrum „Centre of Dignity“ befindet. Er betont: „Die meisten der Siedler hier akzeptieren mein Recht darauf, hier zu leben. Sie wollen selber auch in Frieden leben. Das jüdische Volk fühlt sich seit 3000 Jahren diesem Land verbunden. Beide – Palästinenser und Juden – gehören zu diesem Land. Wir sollten uns gegenseitig respektieren, die Angst überwinden, zusammen leben und acht geben auf unsere Werte.“
„Mögest du diese Mauer und alle Mauern, die Hass, Gewalt, Angst und Gleichgültigkeit erzeugen, einstürzen lassen.“ So heißt es in dem Gebet zu einer Marien-Ikone, an der Mauer zwischen Betlehem und Jerusalem.[7] Zu beten ist sicher gut, aber was unabdingbar nötig ist, das sind persönliche Begegnungen der Menschen beiderseits der Mauer.
Leider wird insbesondere die Arbeit solcher NGOs, die z.B. Angebote für israelische und palästinensische Kinder und Jugendliche machen[8], in den letzten Jahren zunehmend erschwert. So hat die USA die Finanzierung von humanitären Projekten in Palästina mit dem Regierungswechsel extrem reduziert.
In Ostjerusalem an der St. Anna Kirche stößt man auf eine weitere Bibelstelle: Jesus trifft auf einen seit Jahrzehnten gelähmten Mann, der auf seiner Matte neben heilenden Quellen liegt. Es gelingt ihm aber aufgrund des starken Andrangs anderer Kranker nicht, in das Wasser zu kommen. Jesus sieht den Mann und fragt ihn, ob er gesund sein möchte. Dieser antwortet mit „Ja“, worauf ihn Jesus auffordert: „Nimm deine Matte und geh!“ Für den Mann bedeutet die Matte nichts anderes als seine Geschichte. Jesus gibt ihm nicht einfach die Möglichkeit zu gehen sondern zeigt ihm auch, dass er sich seiner Geschichte bewusst sein muss – sich jahrzehntelang nicht frei bewegen zu können ist ja ein Teil seiner Identität geworden, die sich nicht einfach ablegen lässt.
Die Aufforderung „Palästina steh auf!“ beinhaltet für mich ebenso ein „Israel steh auf“. Die Menschen beiderseits der Mauer mögen die Kraft finden, aus der Totenstarre der Verhärtung und der Abschottung aufzuwachen. Macht persönliche Begegnungen möglich, entdeckt euch als Menschen, die in Frieden und Würde leben möchten und nur gemeinsam einen Ausweg aus der verfahrenen Situation finden können.
„Palästina steh auf!“
Christiane, im März 2019
Ich nehme für pax christi Deutschland am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] Die Sperranlage wird seit 2002 mit der Maßgabe errichtet, palästinensische Anschläge auf Ziele in Israel zu verhindern. Sie ist zu etwa 65% fertiggestellt und verläuft größtenteils tief innerhalb der palästinensischen Gebiete. Sie trennt damit nicht Israel von der Westbank gemäß der international anerkennten Grenze, sondern vielerorts palästinensische Familien von ihren Feldern, Olivenhainen, vom Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Die Barriere trennt auch große israelische Siedlungsblöcke, die nach internationalem Recht illegal sind, von der Westbank ab und verbindet sie mit dem Staatsgebiet Israels. 2004 erklärte der Internationale Gerichtshof den Verlauf der Sperranlage innerhalb der Westbank für rechtswidrig und forderte den Abbau in den betroffenen Regionen.
[2] Vgl.: https://en.m.wikipedia.org/wiki/Ta’ayush
[3] Vgl. Mt 9,28
[4] www.galleryone.ps/wp-content/uploads/2017/02/Sliman-Mansour_Gallery-One_AD17_FKabra.pdf
[6] https://www.friendsofroots.net/