Das Aida Refugee Camp ist eines von drei Flüchtlingslagern in Bethlehems Stadtgebiet. Im Norden und Osten grenzt es an die Mauer, im Süden und Westen an die Stadt Beit Jala. Im Aida Camp leben heute etwa 5.500 Menschen auf einer Fläche von 0,071 km². Es wurde 1950 für Flüchtlinge aus 35 Dörfern der Region Jerusalem und Hebron gegründet.[i]
Das Aida Camp ist aus verschiedenen Gründen ein Hotspot. An zwei Seiten wurde die Mauer direkt an das Camp herangebaut. Unmittelbar hinter der Mauer am östlichen Rand des Camps liegt eine der heiligsten Städte des Judentums und des Islam, das Grab von Rachel, Frau des Erzvaters Jakob. Rachels Grab wird heute vor allem von jüdischen Pilgergruppen besucht. Der Ort ist seit Bau der Sperranlage vollständig von der Mauer umschlossen und nur noch aus Richtung Jerusalem zugänglich, obwohl er sich auf Bethlehemer Land befindet. Die Heiligen Stätte und die Sperranlage um die herum ist streng militärisch bewacht.
An diesem Abschnitt der Mauer kommt es häufig zu Übergriffen der Armee und Zusammenstößen zwischen Soldaten und Anwohnern. Es ist – leider – nicht ungewöhnlich, dass wir auf dem Weg vom oder zum Stadtzentrum Rauchwolken aus dem Camp emporsteigen sehen. Was wir andernorts als „incident“ (Zwischenfall) protokollieren und dokumentieren würden, ist hier beinahe schon an der Tagesordnung und geht zumeist im allgemeinen Geschehen unter. In der Adventszeit werden wir aber doch um ein Treffen gebeten, nachdem ein Jugendzentrum im Camp direkt von einem solchen Vorfall betroffen war.
Im Aida Youth Center (AYC) werden wir von Saed empfangen, einem Mittzwanziger, der im Zentrum und an der Universität von Bethlehem Sprachkurse gibt und interessierten Besuchern Führungen durch das Camp anbietet. Noch sichtlich geschockt von den jüngsten Ereignissen berichtet er, dass Soldat:innen aus einem Tor in der Mauer heraus mit Gummimantelgeschossen und Tränengas in das Camp hinein und u.a. auch auf das Zentrum, das in unmittelbarer Nähe der Mauer steht, geschossen haben. Im Jugendzentrum hielten sich zu dem Zeitpunkt wie immer hauptsächlich Kinder auf. Es gibt einen kleinen Laden, in dem im Lager angefertigte Handarbeiten angeboten werden und einen Raum, in dem die Geschichte des Camps dokumentiert ist. Dieser Ausstellungsraum sei, so erklärt uns Saed, die einzige luftdichte und damit tränengassichere Räumlichkeit im Camp. Dorthin flüchteten sich die völlig verängstigten Kinder an jenem Tag.
Saed führt uns aufs Dach des Gebäudes. Die Spuren des Beschusses sind bereits zusammengefegt, jedoch durch Einschusslöcher und Brandflecken deutlich auszumachen. Im auf dem Dach befindlichen Wassertank ist ein besonders großes Einschussloch zu sehen.
Saed erzählt, dass viele Bewohner:innen des Lagers unter den Auswirkungen des häufigen Tränengasbeschusses leiden. Er führt eine Studie aus dem Jahr 2017 der University of California, Berkeley an, der zufolge das Ausmaß des Einsatz von Tränengas in den Bethlehemer Flüchtlingslagern Aida und Dheisheh in dem von der Studie betrachteten Zeitraum so umfangreich war, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach das Ausmaß, das an anderen Orten weltweit beobachtet wurde, überstieg.[ii]
Wie Saed berichtet und die Studie bestätigt, können sich die Menschen im Camp nicht effektiv gegen das Tränengas schützen. Eine der Wissenschaftler:innen, die die Studie verfasst haben, sagte dazu: „Wir haben festgestellt, dass der ständige und unvorhersehbare Einsatz von Tränengas in palästinensischen Flüchtlingslagern verheerende Auswirkungen auf die geistige und körperliche Gesundheit der Bewohner hat – insbesondere auf die am stärksten gefährdeten, einschließlich schwangerer Frauen, Kinder, älterer Menschen und bereits kranker Menschen.“[iii] Dann wird Saed persönlich: Schon vor längerer Zeit habe er sich nicht gut gefühlt. Nach etlichen Arztbesuchen und einem Gewichtsverlust von 14 kg sei endlich die Ursache seines Leidens diagnostiziert worden: Die Ärzte hätten festgestellt, dass das Trinkwasser der Familie Substanzen enthalten habe, die in Tränengas vorkommen.
Noch auf dem Dach weist uns Saed auf Besonderheiten in der Umgebung hin. Die Mauer ist nur einen Steinwurf entfernt. Davor liegt eine aufgelassene Fabrik, in der ursprünglich Möbel angefertigt wurden, dahinter ein weitläufiges Landstück mit Olivenbäumen, das unzugänglich ist für seinen Besitzer, den ehemaligen Fabrikanten, der laut Saed nach dem de-facto Landverlust Konkurs anmelden musste.
Während wir hier der Mauer direkt gegenüberstehen, liegt die Grüne Linie, die theoretisch einmal Grundlage für eine Grenze zwischen Israel und einem zukünftigen Staat Palästina sein soll, Kilometer außerhalb unserer Sichtweite. Auch hier, wie vielerorts, wurde die Mauer völkerrechtswidrig auf palästinensischem Gebiet errichtet.
Und während unser Blick über die Olivenhaine schweift, folgt eine weitere persönliche Geschichte: Die von Saeds Großvater, einem der ersten Bewohner:innen des Aida Camps. Mohammed wurde 1948 während des israelischen Unabhängigkeitskrieges bzw. der Nakba[iv] aus seinem Haus in der Altstadt von Jerusalem vertrieben, so erzählt uns Saed. Er selbst hat das Anwesen in Jerusalem nie gesehen, dennoch schwingt in seiner Stimme eine Sehnsucht mit, als er ein von Olivenbäumen umstandenes Haus beschreibt, so, wie es ihm sein Großvater häufig erzählt hat. Ich wundere mich: Mohammed wurde 1948 vertrieben, das Aida Refugee Camp aber erst zwei Jahre später eröffnet. Wo war Saeds Großvater mit seiner Familie in diesen zwei Jahren? Saed berichtet weiter: Für seinen Großvater seien die Jahre 1948/49 die schlimmsten seines Lebens gewesen. Als Unterkunft habe der Familie damals eine Höhle gedient, weil sie nirgendwo anders eine Bleibe finden konnten. In diesem Moment, hier in Bethlehem und in der Adventszeit, muss ich bei Saeds Worten unweigerlich an die Weihnachtsgeschichte denken.
Während Saed erzählt, drängt sich mir eine weitere Frage auf: Ob denn der Großvater den Schlüssel seines Hauses mitgenommen habe. Vom symbolischen Wert des Schlüssels hatte ich schon häufiger gehört. Saed bejaht, den Schlüssel habe Mohammad bis zu seinem Tode bei sich aufbewahrt. Nun sei er im Besitz seines Onkels. Auf seinem Handy zeigt uns Saed ein Foto seines Großvaters und eines von dessen Hand, in der dieser Schlüssel liegt. Am Eingang des Aida Camps hängt überdimensional und über die ganze Straßenbreite hinweg ebenfalls ein Schlüssel, für die Menschen hier das Symbol für ihre Hoffnung auf ein Recht auf Rückkehr. 2012 wurde der Schlüssel im Rahmen der 7. Biennale in Berlin ausgestellt.
Im Aida Youth Center wird die Geschichte erinnert und lebendig gehalten, aber vor allem wird die Gegenwart sehr praktisch gestaltet. Das Zentrum möchte Kindern, Jugendlichen und Frauen im Camp Freizeitbeschäftigung und Perspektiven bieten. Das Angebot umfasst eine ganze Reihe sportlicher und kultureller Aktivitäten, wie Fußball, Gymnastik, traditioneller Dabka-Tanz oder Musikunterricht. Frauen haben die Möglichkeit, durch den Verkauf ihrer Stickarbeiten zum Unterhalt ihrer Familien beizutragen. Zudem bietet das Zentrum psychologische Unterstützung und Workshops zu verschiedenen praxisbezogenen Themen an. Zwischen 150 und 200 Kinder und Jugendliche nutzen zurzeit das Freizeitangebot des AYC, am beliebtesten sind die Sport- und Musikkurse. Für viele Frauen und Kinder ist dies die einzige Möglichkeit für Abwechslung und ein Ort der Freude in einem ansonsten sehr angespannten Alltag.
Dorothee, im Dezember 2022
Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[i] https://www.unrwa.org/sites/default/files/aida_refugee_camp.pdf aufgerufen am 11.01.2023
[ii] https://humanrights.berkeley.edu/programs-projects/past-projects/no-safe-space, Studie Seite 24, aufgerufen am 11.01.2023
[iii] https://humanrights.berkeley.edu/programs-projects/past-projects/no-safe-space Übersetzung der Autorin
[iv] Als Nakba wird die Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 Palästinenser:innen unmittelbar vor und während des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1948/49 bezeichnet